Theateraufführung am Berufskolleg Ernährung – Sozialwesen – Technik des Kreises Heinsberg in Geilenkirchen
Am Beruflichen Gymnasium für Gesundheit und Soziales in Geilenkirchen erwerben Schüler*innen die Allgemeine Hochschulreife und absolvieren gleichzeitig die Ausbildung zur Erzieherin/zum Erzieher – aber sie spielen auch Theater im jahrgangsübergreifenden Literaturkurs unter Leitung von Fachlehrerin Steffi Claßen.
Bereits vor einem Jahr hatte der Kurs entschieden, Georg Büchners Woyzeckauf die Bühne zu bringen. Das Stück, welches von dem mit nur 23 Jahren verstorbenen Dichter Georg Büchner lediglich als Fragment, also in loser Abfolge einzelner Szenen, überliefert ist, zählt zu den bedeutendsten Dramen deutschsprachiger Literatur. Büchner, selber radikaler Sozialrevolutionär und der Bewegung „Junges Deutschland“ zuzuordnen, zeigt mit seinem auf historischen Quellen basierendem Drama das Schicksal eines Mannes, der –auf vielen Ebenen ausgebeutet und erniedrigt –schließlich zum Mörder wird.
Die Handlung des Stückes
Der Soldat Franz Woyzeck lebt mit Marie und dem unehelichen Sohn in ärmlichsten Verhältnissen. Um zusätzliches Geld zu verdienen, stellt er sich einem Arzt für Experimente zur Verfügung und rasiert seinen Hauptmann regelmäßig. Die große körperliche und psychische Belastung Woyzecks zeigt sich auch in seinem geistigem Zustand: er hört Stimmen und fühlt sich ständig verfolgt. Die dramatische Handlung nimmt ihren fatalen Lauf, als Marie sich dem gut situierten, attraktiven Tambourmajor hingibt. Auch wenn sie versucht, das Verhältnis geheim zu halten, kommen Woyzeck schnell Vorahnungen und sein geistiger Zustand verschlechtert sich mit jeder weiteren Unterlegenheitserfahrung durch Hauptmann und Doktor. Als Woyzeck Marie mit dem Tambour im Wirtshaus tanzen sieht, naht die Katastrophe. Mit seinem letzten Geld erwirbt Woyzeck ein Messer und ersticht Marie brutal. Das Drama endet mit der Flucht Woyzecks, während der Mord an Marie offiziell festgestellt wird.
Die Entscheidung für das Stück
Das 1836 verfasste Stück wirft viele immer noch aktuelle Fragen auf: Welchen Einfluss haben soziale Bedingungen auf Psyche und Geist? Kann der Mensch etwas dafür, in welche soziale Schicht er geboren wird? Wie entstehen Aggressionen? Ist Woyzeck Täter oder Opfer? Hat am Ende das gesellschaftliche System die Verantwortung für den Mord zu tragen? Gerade diese Fragen haben die Schüler*innen und angehenden Erzieher*innen des Literaturkurses sehr beschäftigt und für das Stück begeistert. Aber auch die Struktur des Dramas mit kurzen Szenen und schnellen Schnitten sowie die Sprache der Figuren, die ihre soziale Stellung widerspielt, weckten das Interesse der Schüler*innen an einer eigenen Umsetzung.
Nach intensiver Probenarbeit wurde das Stück in einer Abend- und einer Matineevorstellung vor Schüler*innen, Lehrer*innen und Eltern aufgeführt, ideenreich inszeniert unter der Regie von Kursleiterin Steffi Claßen.
Die Inszenierung, Szene für Szene
Am Anfang steht eine Pressekonferenz, in der eine Richterin (Lilli Morzinek) und eine Gerichtsmedizinerin (Lamyae Raddouh) aus dem historischen Gutachten zum Fall Woyzeck berichten und sich dabei den Fragen der Reporter (Pia Dragstra, Phillip van Rijn) stellen müssen: „War er schizophren?“, „Wie lang war die Klinge?“, „War es ein Sexualdelikt?“ Dann wird es dunkel und die Zuschauer sehen sich einem riesigen, an die Bühnenrückwand projizierten Blutmond gegenüber.
Während der Szenenwechsel hört man im Zuschauerraum immer wieder zu psychedelischen Klängen die Zeilen „This is the end“ – als Verweis auf den blutigen Dramenausgang und stimmungsvolle Untermalung der im Stück häufig erkennbaren lebensverneinenden Weltanschauung.
Schon in der ersten Szene Woyzecks wird sein fragiler geistiger Zustand deutlich, der auch seinem einzigen Freund Andres (Tobias Peters) nicht verborgen bleibt. Julian Storms brilliert als Woyzeck von Beginn an zwischen Leiden und Wahn. Gleich in der zweiten Szene begegnet Marie (Angelina Groß) dem selbstbewussten Tambourmajor (Linda Springmann) und das Schicksal nimmt seinen Lauf. Die eifersüchtige Nachbarin Margarethe (Annika Ollig) und der schäkernde Unteroffizier (Lilli Morzinek) spüren sofort, dass sich Marie zum Tambour hingezogen fühlt. Angelina Groß spielt die Marie so überzeugend und mit solcher schicksalhaften Natürlichkeit, dass der Zuschauer ihre sich während des Stücks entwickelnde innere Zerrissenheit förmlich spürt.
In der umgestalteten Jahrmarktszene, in der sich Marie und Tambour auch in Woyzecks Beisein begegnen, versuchen die beiden „Budenschreier“ (Alina Bancilo und Phillip van Rijn), die versammelten Menschen durch burlesk anmutende Einlagen in ihr Variété zu locken.
Die folgenden Szenen machen deutlich, welcher Unterdrückung Woyzeck ausgesetzt ist. Zum einen muss er sich von dem lethargischen Hauptmann (Moritz Degler) während des Rasierens mehrfach als dumm und unmoralisch bewerten lassen; zum anderen wird er in den Räumen der beiden Doktorinnen zum Versuchsopfer. Inés Mesquida und Nina Höhner verkörpern die Rolle des Doktors in Doppelbesetzung zwischen sadistischem Wahnsinn und Komik. Als Woyzeck, sichtlich gezeichnet, wenig später Marie beim innigen Tanz mit dem Tambour im Wirtshaus beobachtet, hört er Stimmen, die ihn auffordern, sie zu erstechen, worauf er mit seinem letzten Geld ein Messer bei einem dubiosen Händler (Antonia Pacilli) ersteht. Parallel dazu sucht Marie in der Bibel nach Möglichkeiten, ihre Untreue zu büßen. Nachdem die Großmutter (Lea Nijsten) den Kindern (Annika Debye, Cristiana Ferreira, Dana Gibbels) und Karla, der „Idiotin“ (Luisa Nievelstein), ein trostloses Märchen erzählt hat, lockt Woyzeck Marie vor die Stadt. Die Schauspieler verlassen die Bühne und der Spielort wird unmittelbar in den Zuschauerraum verlegt.
Als Marie durch das im Blutmond blitzende Messer Woyzecks grausame Absicht erkennt, ist es schon zu spät. Mit brutaler Energie ersticht er sie. Gespielt wird der Mord hinter einer Schattenwand gegenüber der Hauptbühne. Die Zuschauer als stumme und schaulustige Beobachter wissen vor allen anderen von der gewaltvollen Ermordung. Woyzeck flüchtet und aus dem Wirtshaus kommende, grölende Passanten (Marie Nießen, Annika Ollig) werden auf das entfernte Röcheln der sterbenden Marie aufmerksam. Der blutverschmierte Woyzeck stößt hinzu und schnell fällt der Begriff „Mord“. Wieder flüchtet er, diesmal zum Tatort, und wieder muss das Publikum ihm folgen und sich dem hinteren Schauplatz zuwenden. Er sucht sein Messer und spricht mit liebevoller, dann mit wutgetränkter Stimme Maries Leiche an. Julian Storms schafft es dabei eindrucksvoll, durch Woyzecks schizophrene Züge Gänsehaut beim Zuschauer zu erzeugen.
In der letzten Szene wird Maries blutige Leiche von den wild fauchenden und das Verbrechen nachäffenden Doktorinnen durch den Zuschauerraum auf die Hauptbühne getragen. Eine Gerichtsmedizinerin stellt den Tod fest und schließt mit den Worten: „Ein guter Mord, ein echter Mord, ein schöner Mord.“ Das Publikum bleibt als erschütterter Zeuge zurück und stellt sich am Ende die gleichen Fragen wie die Schüler*innen des Literaturkurses zu Beginn ihrer Arbeit mit dem Stück.
Das kurzweilige, facettenreiche und kreativ inszenierte Stück hat das Publikum begeistert, das die künstlerische Leistung der Mitwirkenden mit tosendem Applaus belohnt.